Warum du dich ständig entschuldigst – und was das mit deinem Selbstwert zu tun hat, sagt die Psychologie
Du gehst durch die Bürotür und sagst automatisch „Entschuldigung“ zu dem Kollegen, der dir nur entgegenkommt? Oder du beginnst eine harmlose Frage mit „Sorry, dass ich störe, aber …“? Diese Verhaltensmuster sind weit verbreitet, obwohl sie den meisten Menschen kaum bewusst sind. Hinter dem scheinbar harmlosen „Sorry“ steckt mehr als bloße Höflichkeit: Psychologisch betrachtet, verrät es viel über unser Selbstbild und unsere innere Haltung.
Was auf den ersten Blick als einfache Geste der Rücksicht erscheinen mag, kann sich als tief verankertes Muster entpuppen – eines, das Beziehungen beeinflusst, unser Auftreten schwächt und unser Selbstwertgefühl untergräbt. Warum tun wir das? Und wann wird aus Höflichkeit ein Signal an unsere Psyche?
Der Entschuldigungs-Autopilot: Warum wir es überhaupt tun
Laut einer Studie der University of Waterloo entschuldigen sich manche Menschen bis zu achtmal häufiger als andere – oft reflexartig und unbewusst. Das hat eine geschichtliche Basis: Entschuldigen ist ein soziales Überlebensmuster, das schon in frühen Gesellschaften Konflikte vermied und den Zusammenhalt sicherte.
Dr. Aaron Lazare, ein renommierter Psychiater, beschreibt Entschuldigungen als gesellschaftliche Rituale, die Beziehungen aufbauen und erhalten. Auch heute werden sie eingesetzt, um unangenehme Situationen zu entschärfen oder Akzeptanz zu erlangen – in Kulturen, die Rücksicht und Harmonie betonen, noch häufiger.
Die verschiedenen Typen des Entschuldigens
Psychologisch lassen sich mehrere Arten von Entschuldigungen differenzieren:
- Echte Entschuldigungen: nach einem tatsächlichen Fehler oder Missgeschick.
- Höflichkeitsentschuldigungen: als soziale Geste im Gespräch.
- Präventive Entschuldigungen: aus Angst, zu stören oder abgelehnt zu werden.
- Existenzielle Entschuldigungen: für das eigene Dasein oder Bedürfnisse.
Echte und höfliche Entschuldigungen sind meist unproblematisch, während präventive und existenzielle Entschuldigungen tiefere Unsicherheiten offenbaren können. Sie senden unterschwellig die Botschaft: „Ich bin weniger wichtig als du.“
Wenn „Sorry“ zur Gewohnheit wird: Psychologische Hintergründe
Übermäßiges Entschuldigen ist oft mehr als eine schlechte Angewohnheit. Es spiegelt tiefere psychologische Ursachen wider. Experten wie Dr. Beverly Engel haben in ihren Forschungen folgende Kernfaktoren identifiziert:
Niedriges Selbstwertgefühl als Auslöser
Menschen mit geringem Selbstwertgefühl neigen dazu, ihre Bedürfnisse hintenanzustellen und entschuldigen sich reflexartig aus der unbewussten Überzeugung, eine Belastung zu sein. Ursachen hierfür sind häufig:
- kritische oder zurückweisende Erziehung
- negative Beziehungserfahrungen
- ständiger Vergleich mit anderen
- Perfektionismus und Angst vor Fehlern
Erkenntnisse der Harvard Business School bestätigen: Häufiges Entschuldigen wird von anderen oft als Zeichen für Unsicherheit und mangelnde Kompetenz wahrgenommen, was den Teufelskreis nährt.
Angst vor Ablehnung
Ein weiterer entscheidender Faktor ist die sogenannte Rejection Sensitivity, also eine übersteigerte Empfindlichkeit gegenüber möglicher Zurückweisung. Menschen mit dieser Veranlagung nehmen neutrale Reaktionen schnell als Ablehnung wahr und entschuldigen sich, um Spannungen vorzubeugen.
Doch das Gegenteil wird oft erreicht, da übertriebene Rücksicht und Unsicherheit genau zu der Distanz führen können, die vermieden werden sollte.
Das Geschlechter-Paradox: Warum Frauen öfter „Sorry“ sagen – und was dahinter steckt
Zahlreiche Studien zeigen, dass Frauen sich im Alltag signifikant häufiger entschuldigen als Männer. Die Forschung von Karina Schumann und Michael Ross legt nahe, dass der Unterschied nicht in einer geringeren Entschuldigungsbereitschaft bei Männern liegt, sondern an deren höherer Schwelle, ein Verhalten als „entschuldigungswürdig“ einzustufen.
Ein zentraler Grund hierfür liegt in gesellschaftlicher Prägung: Mädchen lernen bereits früh, rücksichtsvoll und bescheiden zu sein, während Jungen eher ermutigt werden, sich durchzusetzen. Diese unbewussten Rollenbilder halten oft bis ins Erwachsenenalter an, selbst in sich wandelnden gesellschaftlichen Kontexte.
Warnsignale: Wann Entschuldigungen zur Belastung werden
Nicht jede Entschuldigung ist problematisch. Doch es gibt konkrete Anzeichen, dass das Verhalten die psychische Gesundheit belasten könnte:
Du entschuldigst dich für Grundbedürfnisse
Für Hunger oder Müdigkeit sollte niemand um Entschuldigung bitten müssen. Wenn du das dennoch tust, hinterfrage die Ursachen.
Du übernimmst vorschnell Verantwortung
Du gibst bei Missverständnissen sofort die Schuld auf dich, selbst wenn du nichts falsch gemacht hast? Dies kann den Selbstwert langfristig schädigen.
Deine Entschuldigungen werden ausgenutzt
Wird deine Neigung zur Entschuldigung von anderen erkannt und ausgenutzt, muss Achtsamkeit bestehen.
Die stillen Kosten des Dauer-Entschuldigens
Selbst wenn dieses Verhalten zunächst harmlos wirkt, können die langfristigen Auswirkungen erheblich sein. Expertinnen wie Dr. Harriet Lerner weisen auf folgende Risiken hin:
Verlust von Autorität
Ständiges Entschuldigen kann dazu führen, dass man weniger ernst genommen wird, was im Berufsleben zu verpassten Chancen führt und private Beziehungsdynamiken unausgeglichen werden.
Steigende emotionale Belastung
Das permanente Korrigieren der eigenen Person kann zu innerer Anspannung, Ängsten und sogar Depressionen führen, besonders wenn die Entschuldigungen aus einem Gefühl der Unzulänglichkeit entspringen.
Beziehungen können leiden
Ein Übermaß an Entschuldigungen kann irritieren oder ermüden. Manche Menschen werten es als passiv-aggressive oder unehrliche Geste.
Strategien für mehr Selbstwert und weniger „Sorry“
Die gute Nachricht: Übermäßiges Entschuldigen ist ein erlerntes Verhalten, das sich mit ein wenig Mühe ändern lässt. Psychologische Techniken, die dabei helfen können, sind:
Die 24-Stunden-Regel
Bevor du dich entschuldigst, stelle dir die Frage: Habe ich wirklich etwas falsch gemacht? Versuche Dankbarkeit statt Reue zu formulieren, z. B.: „Danke, dass ihr gewartet habt“ anstelle von „Sorry, dass ich zu spät bin“.
Das Entschuldigungs-Tagebuch
Notiere eine Woche lang, wann, warum und gegenüber wem du dich entschuldigst. Diese Erkenntnisse helfen dir, Muster zu erkennen und gezielt zu verändern.
Neue Ausdrucksformen trainieren
- Statt „Sorry, dass ich störe“ → „Hast du kurz einen Moment?“
- Statt „Tut mir leid, aber…“ → „Ich würde gern etwas anmerken.“
- Statt „Sorry, ich bin so“ → „So sehe ich das.“
Wann psychologische Unterstützung ratsam ist
Begleitet das Entschuldigen schwerwiegende Ängste, Konfliktvermeidung oder anhaltende depressive Stimmungen, kann eine Therapie sinnvoll sein. Besonders die kognitive Verhaltenstherapie hilft, schädliche Denkmuster zu erkennen und zu ändern.
- Du hast Angst, deine Meinung zu äußern.
- Du meidest Konflikte aus Furcht vor Ablehnung.
- Du fühlst dich chronisch schuldig oder „falsch“.
Dann ist es an der Zeit, Hilfe in Anspruch zu nehmen – nicht aber, dich erneut dafür zu entschuldigen.
Fazit: Du musst dich nicht für deine Existenz entschuldigen
Entschuldigungen haben ihren Platz: Sie schaffen Klarheit und Verbindung, wenn wir tatsächlich etwas falsch gemacht haben. Wenn du aber „Sorry“ sagst, ohne konkreten Anlass, offenbart dies oft mehr über deine Sicherheitsbedürfnisse als über wirkliche Fehler.
Frage dich beim nächsten Mal: Würde ich von meinem besten Freund erwarten, dass er sich dafür entschuldigt? Wenn die Antwort nein lautet, liegt es nahe, dass du es auch nicht tun musst.
Selbstwert beginnt mit der Anerkennung deiner Bedürfnisse, deines Raumes und deiner Stimme. Der Weg zu einem authentischeren Auftreten führt nicht über endlose Reue, sondern über ehrliches Selbstbewusstsein. Oft reicht ein einfaches „Danke“ – oder ein entschlossenes Schweigen – völlig aus.
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